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(c) Anna Lenz

(c) Anna Lenz

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Das Geheimnis der Milton Road

Es war der erste sonnige Tag seit Langem und er genoss das Gefühl der Wärme auf seiner Haut. Gerade kam ihm niemand entgegen, also nutzte er den Moment und blieb stehen. Das Gesicht der Sonne zugewandt, hielt er seine Umhängetasche locker an der Seite und hatte die Augen geschlossen. Es war wunderbar, die Strahlen nach so langer Zeit der Tristesse seiner Arbeit und des anhaltenden Regens wieder auf seiner Haut zu spüren.

Ein leises Rascheln riss ihn aus seinen Gedanken und er sah sich nach dem Geräusch um.

Er hatte nicht bemerkt, dass er neben dem alten, leer stehenden Haus der Milton Road stehengeblieben war. Auf seinem Weg zur Arbeit und zurück, kam er fast täglich an diesem Gebäude vorbei, würdigte es aber selten eines Blickes. An einem so schönen Tag wirkte es noch älter und, ja, sogar unheimlich. Die eingeschlagenen oder vernagelten Fenster, halb herunterhängenden Läden und der verstreute Müll taten ein Übriges.

Ein unbehagliches Gefühl beschlich ihn, als er das Haus ansah. Es war fast, als ob das Haus zurückschaute. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken und er wandte sich ab.
Doch dann bemerkte er eine Bewegung im Augenwinkel.
Schnell drehte er den Kopf, konnte allerdings nur eine alte, vergilbte Gardine erkennen, die sich hinter einem rissigen  Fenster leicht vor- und zurückwiegte.
Nur der Wind, sagte er sich, schüttelte den Kopf und ging weiter.
Von dem alten Ding würde er sich nicht den Feierabend verderben lassen.

Ein paar Häuser weiter hatte er seine gute Laune wiedergefunden. Er erfreute sich am Anblick der hübschen Vorgärten, als er erneut ein Rascheln hörte. Er dachte sich nichts weiter dabei. Nur der Wind, der ein paar Blätter hinter ihm aufgewirbelte hatte.
Aus seinen Gedanken gerissen, hörte er schnelle Schritte hinter sich und machte sich darauf gefasst, bald überholt zu werden.
Als nach einer Weile niemand kam, drehte er sich um.
Die Schritte waren verstummt. Niemand war hinter ihm.
Er runzelte die Stirn und wunderte sich, ob seine Ohren ihm einen Streich gespielt hatten oder ob der andere Passant bereits in einen Hauseingang eingebogen war.
Hätte er dann nicht eine Tür oder zumindest einen Schlüsselbund  hören müssen?
Wieder schüttelte er den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben und ging weiter.

Er hatte nur ein paar Schritte gemacht, als er die Gänsehaut bemerkte, die seine Arme bedeckte. Noch immer schien die Sonne wärmend auf ihn herab, aber es  fühlte sich kühler an, als hätte sich eine Wolke davorgeschoben.
Er blieb stehen und strich sich über die Arme.
Seltsam, dachte er und wunderte sich, warum ihm kalt war.
Etwas eisiges berührte seinen Nacken. Er schreckte auf, machte sogar einen kleinen Satz in die Luft.
Panisch drehte er sich um, doch alles was er sah, war ein einzelnes grünes Blatt, das langsam zu Boden segelte.
Er lachte und nahm seinen Weg wieder auf.

Und wieder hörte er Schritte.
Nein, diesmal drehe ich mich nicht um und werde sie einfach ignorieren, beschloss er störrisch.
Dennoch war ihm mulmig zumute.
Er umklammerte seine Umhängetasche und beschleunigte seine Schritte.
Es musste albern aussehen, wie er die Tasche Schutz suchend an sich presste, aber das war ihm egal. Besser, als ständig vor irgendwelchen Hirngespinsten zu erschrecken, war es allemal.
Außerdem kann es ja gut sein, dass mir gerade etwas Wichtiges eingefallen ist und ich es einfach eilig habe, versuchte er, sein eigenes Verhalten zu rationalisieren.

Endlich hatte er das Ende der Straße erreicht und wollte gerade in die nächste einbiegen, als er einen Entschluss fasste.
Er war kein Feigling, also würde er sich noch einmal umdrehen und den Passanten, der immer noch hinter ihm ging, anschauen.
Mit einem freundlichen Lächeln auf dem Gesicht drehte er sich um.
Das Lächeln verschwand und seine Kinnlade klappte langsam herunter.
Der Schrei blieb in seiner Kehle stecken.

Die Angst lähmte ihn, als das Wesen gemächlich auf ihn zuschwebte.
Schwarz und nicht mehr als ein Schattenfetzen, kam es immer näher.
Langsam formten sich knochenartige, weiße Klauen aus dem finsteren Fleck und reckten sich an ebenso dunklen Armen nach ihm.
Eisige Kälte durchdrang seinen Körper, als das Monster ihn schließlich an den Schultern packte.
In der Mitte des schwarzen Schattens öffnete sich ein Loch, das nur dadurch zu erkennen war, dass um es herum eine Reihe von messerscharfen, weißen Zähnen saß.
Immer weiter öffnete sich der Schlund und hatte bald die gesamte Höhe des Wesens eingenommen.
Jetzt endlich entfuhr ihm der Schrei, aber es war zu spät.
Noch während das Echo in der Straße verhallte, hatte das Biest ihn verschlungen.
Lediglich seine Umhängetasche blieb einsam und verlassen an der Straßenkreuzung zurück.

*

Nicht weit entfernt wurde eine Gardine wieder aufgezogen.
Jeder hier wusste, was geschah, wenn man zu lange am alten, leer stehenden Gebäude verweilte, aber niemand sprach darüber.
Nur hinter verschlossenen Türen und Fenstern warnten sie ihre Angehörigen vor möglichem Unheil. Fremde jedoch erfuhren selten von dem, was ihnen bevorstand.

Die Überreste wegzuräumen, war eine grausame Verantwortung, und es gab immer etwas, das das Monster zurückließ. Man durfte nicht darüber nachdenken, denn nur so waren sie für ein paar Wochen wieder in Sicherheit vor dem Monster, ohne einen der Ihren opfern zu müssen.

– 860 Wörter (inkl. Titel)

Behind the Scenes

DE_Entw1 - buntDas Bild von heute kommt von Anna Lenz von canistecture. Nachdem Fairy im Blogboard-Forum ein bisschen Werbung für das Projekt gemacht hat, hat sie uns gleich mal ein Bild geschickt.
Danke dafür!

Die Geschichte selbst ist mal wieder etwas anderes. Als ich die gelblichen Töne des Bildes gesehen habe, musste ich gleich an Erzählungen vom Übernatürlichen denken und schon kamen die Bilder der Verfolgung. Wobei ich glaube, dass sich das leerstehende Gebäude aus Stephen King’s Wolfsmond eingeschlichen hat, dass ich erst neulich zu Ende gelesen hab.
Genre-mäßig ist das mein zweiter Ausflug ins Gruselige. Ich mag das Genre eigentlich sehr, aber irgendwie fallen mir nur selten dazu Geschichten ein.
Vielleicht ändert sich das ja mit den nächsten Bildern. :)

PoiSonPaiNter

P.S. Ihr wollte auch eine Geschichte zu einem eurer Bilder? Dann lest hier nach wie es geht: Dein Bild – Eine Geschichte.

Die Rechte des Bildes liegen bei Anna Lenz, die der Geschichte bei mir. Eine Nutzung oder Weitergabe ist ohne unsere jeweilige Genehmigung nicht erlaubt.

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Lies auf Deutsch

The Secret of Milton Road

It was the first sunny day after quite some time and he relished in the feeling of the warmth on his skin. As no one was sharing the side walk with him, he used the moment to stand still. He had turned his face towards the sun, held his shoulder bag loosely at his side and had closed his eyes. It was wonderful to feel the rays again after such a long time of dull work and continued rain.

A sudden rustle yanked him out of his thoughts and he glanced around.

He hadn’t noticed that he had stopped in front of the old, vacant house of the Milton Road. On his way to work and back he passed the building on a nearly daily basis, but he seldom ever deigned to look at it. On a lovely day like this it seemed even older and, yes, even eerily gloomy. The bashed in or nailed up windows, half fallen off shutters and the scattered trash certainly contributed to that.

An uneasy feeling crept into his bones as he looked at the house. It was nearly as if the house was looking back at him. A cold shiver ran down his spine and he averted his gaze.
Out of the corner of his eyes he noticed movement.
Quickly he tried to follow it, but all he could see was an old yellowed curtain that swayed slowly back and forth behind a cracked window.
“Only the wind”, he told himself, shook his head and continued on his way.
He wouldn’t let that old thing ruin his evening.

A few houses further his good mood had returned. He rejoiced at the sight of the pretty front gardens he passed, when he heard a rustle. He didn’t think anything about it. Only the wind, who had whirled up some leaves behind him.
Yanked out of his thoughts, he now heard fast steps coming from behind and he readied himself to be passed soon.
When after a while no one came, he turned around.
The steps had gone silent. No one was behind him.
He frowned and wondered if his ears had played a trick on him or if the other person had already turned into one of the house entrances.
Shouldn’t he have heard the door or at least the keys in that case?
He shook his head again to rid himself of the thoughts and continued.

He had only made a few steps, when he noticed the goose bumps that had spread on his arms. The sunlight still shone warm onto him, but he felt colder, as if a cloud had slid before the sun.
He stopped and ran his hands across his arms.
Strange, he thought and wondered why he felt cold.
Something icy touched the back of his neck. He startled, jumping up a little into the air.
Panicked he turned around, but everything he saw was a single green leaf slowly gliding to the ground.
He laughed and returned on his way.

And again he heard steps.
No, this time I won’t turn around and will simply ignore it, he stubbornly decided.
Still, he felt queasy.
He clutched his shoulder bag and quickened his pace.
It had to look silly, how he pressed his back to his chest seeking protection, but he didn’t care. Better than constantly being startled by his own imagination anyway.
It might as well be that I’ve just remembered something important and I’m just in a hurry, he tried to rationalize his own behaviour.

Finally he reached the end of the road and was just about to turn into the next, as he made a decision.
He wasn’t a coward, so he would turn around one last time and take a look at the passerby that was still walking behind him.
With a friendly smile on his face he turned around.
The smile disappeared and his jaw dropped.
The scream got stuck in his throat.

The fear petrified him as the creature slowly floated towards him.
Black and nothing more than a shadow-rag it came closer and closer.
Bony, white claws slowly formed from the murky blotch and reached for him on equally dark arms.
An icy coldness ran through his body as the monstrosity had finally caught his shoulders.
In the middle of the shadow a hole opened, only recognizable as such through the line of razor-sharp, white teeth surrounding it.
The gullet opened wider and wider and soon had reached the whole height of the creature.
Now finally the scream escaped him, but it was too late.
While the echo trailed off down the road, the beast had already engulfed him.
Solely his shoulder back remained lonely and abandoned on the crossroad.

*

Not far away a curtain was opened again.
Everyone here knew what happened if you lingered too long near the old, vacant house, but no one dared to talk about it.
Only behind closed doors and windows they warned their loved ones of the possible evil.
Foreigners, however, rarely learned what lay ahead of them.

Cleaning up the remains was a cruel responsibility, and there was always something the monster left behind. You had to not think about it as only this way they would be safe from the monster for a few weeks, without having to sacrifice one of their own.

– 896 words (incl. title)

Behind the Scenes

EN_Entw1 - bunt

The picture is from Anna Lenz of canistecture. After Fairy advertised the project a bit in the Blogboard-Forum she right away send us the picture.
Thank you for it! The story itself is again something different. When I saw the yellowish tones of the picture, I right away thought of the stories about the supernatural and then came the pictures of the chase. Though I do believe the abandoned house sneaked in from Stephen King’s Wolves of the Calla that I recently finished.
Genre-wise is this my second exploration into scariness. I do quite like the genre, but somehow I rarely have ideas for stories in it.
Maybe I do with the next pictures. :)

PoiSonPaiNter

P.S. You want to have a story for one of your pictures as well? Read here how it is done: Your Picture – A Story.

The rights for the story are mine, the ones for the pictures belong to Anna Lenz. Story and Picture are not to be used or copied without consent of either.